Tunnelbau im Anhydrit
Kostenrisiko Anhydrit
Eines der am meisten diskutieren Risiken beim Bahnprojekt Stuttgart 21 ist der Tunnelbau im Anhydrit, einer Gesteinsart, die bei Wasserkontakt aufquillt. An diesem Punkt entstehen – je nach dem mit welcher Eintrittswahrscheinlichkeit von Problemen man rechnet – auch die großen Unterschiede bei der Baukostenberechnung zwischen der Bahn (6,526 Milliarden Euro) und z.B. dem Bundesrechnungshof (bis zu 10 Milliarden Euro). Vereinfacht formuliert: Geht alles weitgehend gut, liegt die Bahn mit ihren 6,5 Milliarden richtig, geht so ziemlich alles schief, was schief gehen kann, ist selbst die Zahl des Bundesrechnungshofes noch optimistisch. Der entscheidende Punkt wird also sein: Gelingt der Tunnelbau im Anhydrit.
Das Gestein Anhydrit
Anhydrit wurde 1804 erstmals wissenschaftlich von dem deutschen Mineraloge Abraham Gottlob Werner (1749 -1817) beschrieben. Er benannte das Mineral nach dem Griechischen Wort ἄνυδρος (anhydros) für „wasserlos“. Und genau dies, ist der Punkt: Wird Anhydrit nass, wandelt er sich in Gips um und dehnt sich dabei aus, er quillt auf. Diese Ausdehnung kann zu Geländehebungen an der Oberfläche (Gefahr für die Wohnbebauung) oder Verwerfungen innerhalb des Bergs führen (der Tunnel verbiegt sich). Während leichte Hebungen und Verdrehungen bei einem Straßentunnel relativ unerheblich sind, stellen sie für einen Eisenbahnbetrieb mit bis zu 200km/h ein echtes Problem dar.
Der Tunnelbau in dieser Gesteinsschicht ist riskant. Was passieren kann, wenn es schief geht, sieht man am Autobahntunnel Engelberg: Ständiger Sanierungsbedarf über die ganze Betriebszeit und nach noch nicht mal zwanzig Jahren eine Generalsanierung für 110 Millionen Euro in 2018. Ein solches Ereignis bei den Stuttgart-21-Tunneln wäre fatal: Bekanntlich sind die Tunnel zum neuen Tiefbahnhof ohne größere Reservekapazitäten geplant. Würde eine Zufahrt zum neuen Hautbahnhof sanierungsbedingt für eine Zeit ausfallen, wäre ein vernünftiger Planbetrieb fast nicht mehr möglich. Aber es gibt auch Beispiele, wie die unterirdische Kehrschleife der S-Bahn an der Station Schwabstraße und dem anschließenden Hasenbergtunnel zur Haltestelle Universität. Hier ist der Tunnelbau im Anhydrid geglückt und es sind seit über 35 Jahren keine Probleme auftreten.
Der Tunnelbau
Nördlich des Stuttgarter Hauptbahnhofs werden mit den Tunnel Feuerbach und Bad Cannstatt drei sogenannte Anhydritlinsen durchfahren. Wobei „Anhydritlinsen“ etwas missverständlich ist: Der Anhydrid tritt bei den Stuttgarter Tunnelbaustellen nicht in Reinform auf. Das Gestein hier ist ein Schluff-Tonstein mit eingelagertem Anhydrit, sogenannter „unausgelaugter Gipskeuper“. Kommt Wasser in diese Schicht wandelt sich der Anhydritanteil unter Volumenzuname in Gips um. Reiner Anhydrit nimmt um über 60% an Volumen zu, wenn er sich in Gips umwandelt. Unausgelaugter Gipskeuper ist ein dichtes, hartes, felsartiges, standfestes Gestein. Hat sich der Anhydrit in Gips umgewandelt, löst weiterer Wasserzutritt mit der Zeit den Gips und schwemmt ihn aus, so dass nur noch die Schluff-Tonstein-Matrix übrigbleibt, der sogenannte „ausgelaugte Gipskeuper“. Dieser hat eine eher weiche, porige, wenig standfeste Struktur.
Ständige Kontrolle ist wichtig
Nach jedem Vortrieb, also alle ein bis zwei Meter, werden Gesteinsproben entnommen und dann von Geologen im Labor genau analysiert. Erst hier, im Labor, kann definitiv festgestellt werden, ob das Gestein Anhydrit enthält oder dieser bereits zum Gips ausgelaugt ist. Dem Stein selbst sieht man dies nicht an. Der Übergang zwischen Andydrit- und Gipsschichten ist fließend.
Im Bereich Stuttgart müssen 15,8 Kilometer der Tunnel durch anhydritführenden Gipskeuper gebaut werden. Kommt Anhydrit mit Wasser in Verbindung wandelt er sich in Gips um und quillt dabei um ca. 60 Prozent auf, wobei in dem durch die Tunnel durchfahrenen Bereich kein reiner Anhydrit vorliegt. Anhydrit quillt auch nicht schlagartig, wie ein Schokokuß in der Mikrowelle auf, sondern dehnt sich sehr langsam aus. 70 bis 100 Jahre kann dieser Prozess dauern. Der Prozess des Aufquellens ist nicht eine einmal angestoßene, unaufhaltsame Kettenreaktion, die sich durch das ganze Gebirge frisst, sondern findet nur in den nass gewordenen Bereichen statt, oder, solange weiteres Wasser nachkommt. Stoppt man das Wasser, stoppt man das Ausdehnen des Quellprozesses in weitere Bereiche. Dass also kein Wasser zum Anhydrit gelangt ist der zentrale Lösungsansatz der Tunnelbauer.
Prof. Dr.-Ing. Walter Wittke berät die Bahn
In Sachen Tunnelbau im Anhydrit lässt sich die Projektgesellschaft vom Tunnelbauexperten Prof. Dr.-Ing. Walter Wittke und seiner Firma WBI beraten. Erkenntnisse aus den bisher gebauten Tunnel fließen in die Gestaltung der aktuellen Baustellen mit ein.
So wurde zum Beispiel der Querschnitt des Tunnel von einer Hufeisen zu einer umgedrehten U-Form geändert, d.h. der Tunnelquerschnitt verjüngt sich nach unten hin nicht mehr, sondern ist ab der Mitte der Röhre abwärts gerade. So wird verhindert, dass sich im aufgelockerten Gestein unterhalb der Innenschale des Tunnels Wasser ansammeln kann.
Beim Sprengvortrieb entstehen zwangsläufig kleine Risse in den Gebirgsschichten. In diese wird Polyurethan, ein Kunstharz, gepresst und die Risse werden so ausgefüllt und abgedichtet. Das hier verwendete Polyurethan ist witterungsbeständig und soll, so Wittke, eine langfristige Lösung sein.
Vakuumlanzen sorgen zusätzlich dafür, dass eventuell vorhandenes Wasser aus dem Gestein abgezogen wird. Auch beim Vortrieb wird auf das sonst übliche Wasser zur Staubbindung verzichtet. Die Sicherung unmittelbar nach dem Ausbruch erfolgt mit Trockenspritzbeton. Dieser wird erst an der Düsenspitze mit Flüssigkeit vermengt und enthält spezielle Chemikalien, die für ein extrem schnelles Abbinden (Trocknen) sorgen.
Kein Wasser darf ins Anhydritgestein gelangen
Neben dem Wasser, welches während des Tunnelbaus eingesetzt wird ist ein weiterer Problempunkt Wasser, das an der Außenschale des Tunnel entlang läuft. Irgendwo im Tunnelbereich außerhalb des Anhydrits wird eine Wasserader durchquert: Das Wasser sammelt sich außen an der Tunnelröhre und läuft an ihr entlang bergab in den Anhydritbereich. Hier werden sogenannte Sperrwerke vor dem Anhydritbereich eingebaut. Dies sind, vereinfacht formuliert, große Ringe aus Beton und Polyurethan um die Tunnelröhre, die das Wasser beim Entlanglaufen an der Tunnelröhre hindern. Mehrere Sperrwerke hintereinander schaffen Redundanz.
Ständig wird im Tunnel und an der Oberfläche kleinteilig nach Hebungen gemessen. Während des Baus besteht an 7 Tagen der Woche eine 24-stündige Bereitschaft des Tunnelbautechnischen Sachverständigen der WBI sowie eines EBA-Prüfingenieurs.
100 Millionen Mehrkosten für Abdichtungen
Die gegenüber dem Standardtunnelbau zusätzlichen Maßnahmen lässt sich die Bahn insgesamt gut 100 Millionen Euro kosten. Diese seien aber bereits im Finanzierungsrahmen für Stuttgart 21 in Höhe 6,526 Milliarden Euro enthalten.
Auch auf sogenannte Anker, die den Tunnel im Gebirge fixieren wird weitgehend verzichtet. Die Geologen halten das Gestein in diesem Bereich für stabil genug, um darauf verzichten zu können. Anker hätten die Problematik, dass auch sie je nach Länge durch verschiedene Gesteinsschichten führen und an ihnen Wasser entlang laufen könnte.
„Bis jetzt sieht es gut aus“
15,8 Kilometer der Tunnel im Bereich Stuttgart müssen durch anhydritführenden Gipskeuper gebaut werden, davon wurden bis 2017 bereits 3,7 Kilometer vorangetrieben. Die ersten Messergebnisse scheinen das Konzept von Professor Wittke zu bestätigen: Während es im Engelbergtunnel schon während des Baus Hebungen von über 10 Zentimetern gab, sind die Messwerte im Bereich der Tunnel Feuerbach und Bad Cannstatt maximal im einstelligen Millimeterbereich. Ein üblicher Messwert, auch beim konventionellen Tunnelbau.
Im Lenkungskreis Stuttgart 21 wurde am 1. Februar 2017 die Frage „Gibt es einen vor der Inbetriebnahme liegenden Zeitpunkt, ab dem es als praktisch ausgeschlossen angesehen werden kann, dass es danach noch zu Hebungen kommt, sofern bis zu diesem Zeitpunkt keine nicht nur geringfügigen Hebungen eingetreten sind?“ von den Ingenieuren der WBI wie folgt beantwortet: „Sofern beim Bau und in den ersten 2 Jahren nach Einbau der Innenschale keine nicht nur geringfügigen Hebungen eingetreten sind, muss man danach nicht mehr mit Hebungen rechnen.“
Bis zu Eröffnung des neuen Stuttgarter Querbahnhofs sollte man also wissen, ob der Tunnelbau im Anhydrit geklappt hat.
Gabriel Habermann